Evelyn entdeckt ihr bisher ungenutztes Potenzial.

Photo Credit: Courtesy of A24

Rechnungen sortieren, Essen kochen, sich um die Kund:innen eines Waschsalons kümmern. Nicht gerade Zutaten aus denen Filme gemacht werden, die noch lange im Gedächtnis bleiben sollen. Und trotzdem nimmt sich der Überraschungshit des Regisseurenduos Daniels, Everything Everwhere All At Once, genau dieser Elemente an und schmiedet daraus etwas viel Größeres als man zunächst zu sehen glaubt. Ein Spagat zwischen völligem Klamauk und Ernsthaftigkeit, Drama und Warmherzigkeit den man nicht weniger als sehenswert beschreiben sollte.

Es ist wochentags, Evelyn und ihr Mann Waymond sind sehr beschäftigt. Sie beide leiten einen Waschsalon und müssen Kunden betreuen. Dazu kommt noch, dass Evelyn die Steuer für das Finanzamt fertigstellen und abgeben muss und an dieser Aufgabe zu verzweifeln droht. Aber es ist nicht nur der Stress der Arbeit, der die Familie beschäftigt. An besagtem Abend soll es ein Fest mit eingeladenen Kunden im Waschsalon geben, Evelyns Vater ist aus China zu ihr geflogen und auch Tochter Joy kommt zu Besuch. Dass sie ihre Freundin Becky mitbringt, stößt ihrer Mutter sauer auf. Sie verschweigt ihrem Vater die Homosexualität der Tochter und stößt sie damit vor den Kopf. Als Evelyn, Waymond und ihr Vater Gong Gong das Finanzamt betreten, wird ihr einmal mehr ihre Frustration in ihrer Lebenssituation bewusst und auch ihr Mann überlegt, sich von ihr scheiden zu lassen. Doch so banal wie niederschmetternd der Tag von Evelyn auch beginnt, so sollte er ein entscheidender Wendepunkt in ihrem Leben werden.

Everything Everywhere All At Once aus dem Jahr 2022 mit Michelle Yeoh in der Hauptrolle als Evelyn ist ein Film, der, wie es sein Titel bereits andeutet, irgendwie alles ist. Nur schwer kann man fassen, was man zu sehen bekommt. Es ist der zweite bekannte Film des Regisseuren- und Drehbuchduos Daniels, die sich zuvor durch ihre Arbeit an Swiss Army Man auszeichneten. Und wer dachte, mit ebendiesem Film schon das Verrückteste zu Gesicht bekommen zu haben, irrt sich gewaltig. Mit Everything Everwhere All At Once legen beide in jedem Element noch eine Schippe drauf. Damit erfindet er kein neues Genre oder enthüllt einen Plot, den man zuvor noch nie gesehen hat. Der Film greift die Idee eines „Was wäre wenn?“ auf, die Butterfly Effect bekannt machte, und mischt diesen mit der Idee eines Multiversums. Evelyn, so wird ihr schon zu Beginn des Films klargemacht, ist bei weitem nicht die einzige Evelyn. Alle Entscheidungen, die sie im Leben traf, wurden von anderen Evelyns in andere Richtungen getroffen. Durch einen Kniff bekommt sie die Fähigkeit, sich in diese Evelyns hineinzuversetzen, ihre Fertigkeiten zu erlernen und gegen eine allseits gefürchtete Bedrohung einzusetzen.

Um dem Film seine Besonderheit zu verleihen, ist die Frage nach der Handlung jedoch nicht zwangsläufig zielführend. Vielmehr zeigt er auf, wie Everything Everwhere All At Once dies inszeniert. Die verschiedenen Universen fängt der Film in besonderer Manier auf. Vor allem die Liebe zum Detail, der Aufwand, mit denen das Multiversum und seine verschiedenen Evelyns gezeigt werden, lässt erstarren. Diese Starre kann bisweilen jedoch auch durch eine schiere Überforderung der Zuschauenden geschehen. Der Film lässt einen kaum eine Minute ausruhen und legt ein enormes Tempo an den Tag. Das liegt vor allem an seinem sprunghaften Aufbau mit ständigen Universenwechseln, um die Geschichte der Verbundenheit aller Charaktere im Multiversum darzustellen. Die so wundervoll gestalteten Sets, Kostüme und Spezialeffekte fallen durch dieses Tempo manchmal hinten unter. Ihnen wird ab und zu nicht der nötige Raum des Wirkens und der Würdigung gegeben.

Evelyn erlebt ihre anderen Versionen und sehnt sich nach einem Leben abseits ihrer Tristesse.

Photo credit: Allyson Riggs. Copyright: Courtesy of A24

Abseits dessen weiß der Film jedoch mit seinen Charakteren umzugehen. Michelle Yeoh ist als Evelyn gerade deshalb so glaubwürdig, weil sie die anderen Versionen ihrer selbst so ausdrucksstark ausschmückt und damit das Multiversum real wirken lässt. Auch ihr Mann Waymond, gespielt von Ke Huy Quan, der zunächst wie ein naiver und einfacher Ehemann wirkt, entfaltet sein großes Potenzial in diesem Film. Die Vielschichtigkeit der Charaktere ist es auch, die Everything Everywhere All At Once abseits seiner visuellen Ausschmückungen zu einer besonderen Erfahrung werden lässt. Auch wenn es manchmal etwas weniger Sprunghaftigkeit bedürfte. Denn gerade, weil Everything Everywhere All At Once ernste Themen anspricht, fehlt es einem manchmal an Zeit zum Nachfühlen, da die Zuschaur:innen damit beschäftigt sind zu verstehen, in welchen Universen und Situationen sie sich gerade befinden. Gerade im zweiten Akt des Films wird dies deutlich. Hier birgt sich die Gefahr, schlichtweg aus Überforderung aus der Handlung auszusteigen und damit die Zusammenführung des Endes nicht mehr gebührend genießen zu können.

Evelyn in einem Universum, in dem die Menschen Wurstfinger besitzen. Bei weitem nicht das Absurdeste, was der Film uns zu sehen gibt.

Photo Credit: Allyson Riggs. Copyright: Courtesy of A24

Everything Everwhere All At Once ist wohl der ideenreichste Film der letzten Jahrzehnte. Er vermischt Banalitäten mit Martial Arts, Popkultur mit philosophischen Ansätzen, Gefühle mit Absurditäten. Nicht immer, aber oft findet er dabei den richtigen Ton. Dass eine entscheidende emotionale Stelle des Films mittels Textkästen erzählt werden, weil Evelyn und ihre Tochter hier nur als Steine existieren, lässt einen zu diesem Zeitpunkt kaum noch überraschen. Am Ende fragt man sich, was das Gesehene wohl zu bedeuten hat? Vielleicht, so drückt es der Film selbst auch immer wieder aus, ist nichts von Bedeutung. Dass der Film jedoch selbst von Bedeutung ist steht außer Frage. Auch wenn Everything Everywhere All At Once sicherlich nicht von allen geliebt werden wird, so muss man schätzen, dass es ihn gibt. Allein durch seinen Ideenreichtum, seine Begeisterung für Details und das Erschaffen verschiedener Welten ist er ein sehenswertes Werk, das einem noch länger in Erinnerung bleiben wird.

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