Adam (Andrew Scott) plagt seiner Kindheit eine gewisse Leere, die sich durch ein schreckliches Ereignis in ihm manifestiert hat.

Copyright: 2023 Searchlight Pictures. Photo by Chris Harris

Adam ist allein. Er lebt in einem verlassen wirkenden Apartmentkomplex in London. Der Autor von Film- und Fernsehdrehbüchern verbringt die meiste Zeit in seiner Wohnung, tippt Sätze in das Schreibprogramm seines Computers und hört Musik. Sie übertönt die unendliche Stille des Hauses, in dem außer ihm wohl nur noch ein einziger Mieter wohnt, Harry. Der klingelt eines Abends etwas angetrunken an Adams Wohnungstür und die beiden kommen ins Gespräch. Obwohl Adam Harry an diesem Abend abweist, entwickelt sich bald eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden. Als Harry nach Adams nächstem Projekt fragt, erzählt er ihm von seiner Idee, eine autobiographische Geschichte über seine Kindheit in einem Londoner Vorort zu schreiben. Um sich inspirieren zu lassen, fährt Adam mit dem Zug genau dorthin, wo er mit seinen Eltern gelebt hat.

Abends bekommt Adam von seinem Nachbarn Harry (Paul Mescal) Besuch. Es wird nicht der letzte sein.

Copyright: 2023 Searchlight Pictures.

Klingt die Inhaltsangabe von All of Us Strangers zunächst etwas inhaltsleer, so zeigt der Film gleich zu Beginn, welche Kraft er entwickelt. Das liegt zum einen an einem Detail, das ich hier bewusst nicht verraten möchte. Doch All of Us Strangers bietet weit mehr als diesen einen Kniff. Mit jeder Einstellung erzählt Andrew Haigh etwas über die Figur, und das beginnt schon in der ersten Einstellung, wenn wir Adam sehen, wie er aus seinem Apartment auf die Skyline von London blickt und dabei traurig aussieht. Überhaupt müssen wir die schauspielerische Leistung der Darsteller:innen loben. Vor allem Andrew Scott liefert hier eine Leistung ab, die ihresgleichen sucht. Seien es die leeren Blicke der Depression oder der Kloß im Hals, wenn er von seinem Leiden als schwuler Junge in der Schule erzählt. All das lässt Scott so unglaublich echt und nuanciert spielen, dass man meinen könnte, er hätte es selbst erlebt.

All of Us Strangers lebt von den beiden Beziehungsgeschichten der Hauptfigur Adam. Da ist zum einen die Beziehung zu Harry, die Haigh liebevoll inszeniert und die Scott und Mescal so glaubwürdig ausfüllen. Sie ist Ankerpunkt für Adams Entwicklung: Wo er zu Beginn des Films noch sehr zurückgezogen lebt, taut er im Laufe des Films auf, wird selbstbewusster. Und beginnt nicht nur Harry, sondern auch sich selbst wieder zu mögen.

Überglücklich Adam wiederzusehen, empfangen ihn seine Eltern (Claire Foy, Jamie Bell) in ihrem Haus, in dem die Zeit still zu stehen scheint.

Copyright: 2023 Searchlight Pictures.

Aber auch die Beziehung zu seinen Eltern ist für Adam eine wichtige Aufgabe. Denn er möchte ihnen zeigen, was aus ihm geworden ist. Außerdem gibt es für ihn noch unangenehme Dinge. Unausgesprochene Dinge, über die er mit seinen Eltern noch nicht sprechen konnte. Diese Momente entwickeln durch das Spiel und die Inszenierung etwas so Herzzerreißendes, dass an manchen Stellen die Tränendrüsen spürbar werden.

All of Us Strangers erzählt von Einsamkeit und den eindrucksvollen Unterschied zum Alleinsein. Denn Einsamkeit ist etwas, dass man fühlt, auch wenn man nicht unbedingt allein ist. Es ist ein Gefühl von Leere, Ziellosigkeit und der Angst, niemals aus dem Alleinsein zu entkommen. Adam plagt dieses Gefühl seit seiner Kindheit, es hat einen Knoten in seiner Brust gebildet. Nun scheint sein Nachbar Harry, zu dem er Gefühle entwickelt, ein erster Lichtblick für ihn zu sein. Andrew Haigh nimmt sich hierbei sehr bewusst ein allgegenwärtiges Thema und zeigt auf, wie schwer Menschen mit diesem Gefühl zu kämpfen haben. Vor allem für Menschen, deren Lebensentwurf nicht einem heterosexuellen Normativ entspricht. Dabei spielt Zeit eine wichtige Rolle in All of Us Strangers. Während des Umfeld von Adam sich typisch entwickelt, Familien gründet und aufs Land zieht, so bleibt Adam allein zurück. Und auch in seiner Kindheit wird er mit seinem Queersein konfrontiert, denn in dieser Zeit grassiert der HI-Virus vor allem bei schwulen Männern. Es ist ein schwieriges Verhältnis, dass Adam mit der Zeit hat. Und auch eine unbeschwerte Kindheit bleibt ihm verwehrt, er wird gemobbt, nach außen gedrängt. Etwas in ihm verhärtet über die Zeit, geht kaputt. Und es ist schwer für ihn, aus diesem Zustand wieder auszubrechen.

Haighs Film ist melancholisch und zuweilen düster. Doch er macht auch Hoffnung, durch die Kraft der Liebe zu Menschen der Einsamkeit zu entfliehen. Auf ein besseres Leben.

Teile diesen Artikel gerne!